Im Schwarzatal


Ein neuer Erwerbszweig ist auch das Sammeln von Beeren: Erd- und Himbeeren, Heidel- und Preiselbeeren. Es ist vergnügliche Arbeit für die rotbackigen Dinger; wie die Bachstelzen hüpfen sie auf nackten Sohlen schwatzend durch den Wald und bergen den Fund zum Teil im Mund, zum Teil im Korb. So kann man ihnen schon an den frischen Lippen ansehen, welche Gattung von Vaccinium sie gelesen haben, die schwarze Heidel- oder die rote Preiselbeere. Um über die volkswirtschaftliche Seite der Sache ins klare zu kommen, habe ich die Hübschen unter ihnen darnach gefragt; die Häßlichen hätten's mir ja vielleicht auch sagen können, aber man muß sich das Studium möglichst angenehm machen. Die Hübschesten waren zwei blutjunge Dinger, die ich bei Katzhütte traf; sie sahen so verschieden aus, wie Kaukasier überhaupt untereinander sein können. Die eine schlank, blondhaarig, blauäugig, mit einem schmalen Gesicht, die andere klein, Aug und Haare schwarz, das Gesicht rundlich und breit wie die Gestalt. So verbildlichten sie mir zugleich sehr angenehm die beiden Menschentypen des Tals, deren Grenzlinie etwa der Katzebach ist; von dort bis über Goldisthal hinauf sitzt der kleinere schwarze, abwärts aber bis zur Mündung der längere blonde Schlag. Mischlinge zwischen Deutschen und Slawen sind sicherlich beide, nur schlägt bei den Blonden das germanische, bei den Schwarzen das slawische Blut mehr durch; es stimmt dazu, daß diese ihre Friedhöfe mit lebendigem Fichtenzaun umhegen, wie man's zuweilen am Balkan trifft; es sieht anmutig und tröstlich aus. Mit diesen beiden nun, weil sie die Hübschesten waren, veranstaltete ich die gründlichste Enquete; sie waren blutrot, lachten, steckten auch die Pfötchen in den Mund, gaben aber Bescheid. Die Ergebnisse meiner Forschung sind die folgenden: Erdbeeren waren bis zum vorigen Sommer nur für die Fremden zum Essen da; dies Jahr sind, ohne daß diese wichtigste Verwendung aufgehört hätte – »sie fressen's immerzu gar gern« –, zwei neue Sachen aufgekommen durch eine Berliner Familie. Die Köchin, Auguste heißt sie – »kennen Se se 'leicht, 'ne Dicke, Blonde?« –, macht Erdbeeren ein; sie hat's auch der Frau vom »Wurzelberg«-Wirt gezeigt, wie man's macht, und diese anderen; das wird man nun nachtun und ein kleines Versandgeschäft beginnen wie schon früher mit eingemachten Himbeeren. Die zweite neue Sache hat Augustens Fräulein aufgebracht – aber da platzten sie los, und es währte fünf Minuten, bis ich's endlich erfuhr: das Fräulein also macht aus den Erdbeeren einen Brei und schmiert sich ihn vorm Schlafengehen übers Gesicht. Warum sie das täte, fragte ich. »Weil sie geel (gelb) is un gar gerne rodhe Backen kriegen dhäte.« Ob sie das auch nachtun wollten? Und da sagten die beiden Dingerchen wie aus einem Munde, indem sie mich aus blauen und schwarzen Augen gleich schalkhaft anblitzten: »Wenn Se glauben, daß mer's nötig haben dhäten!« Ja, so sind sie – und wenn's nur sechzehnjährige Beerenleserinnen sind und vor ihnen steht ein angegrauter Mann, der im Schweiße seines Angesichts die wirtschaftlichen Verhältnisse des Schwarzatals ergründet, kokettieren müssen sie. Was aber die Himbeeren betrifft, so werden sie nicht bloß den Fremden frisch verkauft und als Eingemachtes versendet, sondern man macht seit zwei Jahren auch Himbeersaft daraus; der Krämer hat eine Presse, verlangt aber für die Benutzung »ein Sündgeld«, und daher baut jetzt der Knöpfchehannes selbst eine Maschine; der will's billig tun. Die Heidelbeeren wieder werden nicht eingemacht, nicht gepreßt, sondern teils essen's die Fremden, teils verkauft man sie in Körben »wie 'n Häusche« an die Weinhändler; »dadervon wird der Win sehre guet!« sagten diese ahnungslosen Geschöpfe. Schließlich die Preiselbeeren, die würden meist eingemacht gegessen; dann verkaufe man sie auch an die Branntweinbrenner, die machten den feinsten Schnaps daraus; ob ich noch kein Beerenwasser getrunken hätte. Ich mußte verneinen; in Likören bin ich überhaupt erbarmungswürdig schwach. Nun das Letzte: wieviel sie wöchentlich verdienten, da haperte es; »acht Groschen«, sagte die Hanne, »zwanzig« die Marie, beide ganz gedankenlos; das Geld bekam eben Mutter. Damit war der Kursus beendet; das ehrlich verdiente Honorar nahmen sie nur nach langem Zureden, obwohl sie doch sichtlich sehr arm waren; das erwiesen die geflickten Kittelchen. Für den Sonntag hatten sie wohl ganze; auch Schuhe, ein Schnürmieder und ein Halstuch, aber sicherlich nichts mehr von der alten Tracht. Die sieht man nur noch selten und dann an betagten, wohlhabenden Bauern. Außer im Erfurter Museum habe ich in den zwei Wochen, wo ich hier bin – denn nun sind's sachte so viel geworden –, diese Tracht ein einziges Mal gesehen, an einem behäbigen Paare in Mellenbach, sonntags beim Kirchgang. Er trug einen langen schwarzen Mantelrock, auf dem Kopf einen Dreimaster, im Haar den Bleikamm, der's zusammenhielt; sie einen schweren dunkelblauen Rundmantel über bauschigen Röcken; das greise Haar deckte eine schwarzseidene Mütze, deren Bänder unter dem Kinn gebunden waren. Nur diese sehr kleidsam Bandmütze sieht man noch oft, ab und zu auch das gestickte Mieder, aber die sieben Röcke übereinander – wie im Museum – sind vernünftigerweise verschwunden. Das war ja auch eine Tracht, die namentlich zur Sommerszeit außer dem Auge mindestens noch einen der vier anderen Sinne gröblich beleidigen mußte. Heute tragen die Frauen Blusen und Röcke, die sich nur durch die grellen Farben und den plumpen Schnitt von der städtischen Tracht unterscheiden; die Männer blaue Kittel und Mütze am Wochentag, sonntags Jägerrock und Hut oder Rock und Hose wie die Handwerker in den Marktflecken. Nur Zylinder habe ich noch nicht gesehen. Es wäre aber eine falsche Philosophie, zu glauben, daß es anderwärts nicht so ist, nur sieht man's hier deutlicher. Als Gold und Eisen versagten, schufen sie eben alle diejenigen Industrien, die Wald, Boden und Fluß ermöglichten. Im Quarz der Felsen war neben den winzigen Goldäderchen ein anderer größerer Reichtum verborgen: er gab gutes Material für feines, kalkreiches Glas; nun sind einige Glashütten im Tal. Noch Besseres barg die Tonerde; vortreffliches Kaolin; die Schwarza aber gab die Wasserkraft zum Reinigen und Zerkleinern. So entstand hier eine Reihe von Porzellanfabriken; die älteste von ihnen, die von Sitzendorf, ist noch heute die berühmteste. Ihr Begründer war ein seltsamer Mensch; Macheleidt hieß er, wie so viele im Tal. Er war ein Laborantensohn und sollte selber Laborant werden. Das aber mißfiel ihm; sein Sinn stand nach einem höheren, vor allem jedoch nach einem reineren Leben, er wurde Theolog. Daneben trieb er, wie er's von Kindesbeinen gewohnt war, allerlei chemische Allotria, studierte auch Chemie. Theologie und Naturwissenschaften vertragen sich selten; über den Mann kamen schwere Stunden; er predigte wohl zuweilen, konnte sich aber zum Pfarramt nicht entschließen und wurde so ein armer alter Kandidat. Bei der Heimkehr von einer Probepredigt, wo er recht erkannt hatte, daß ihm der Glaube fehle, warf er sich verzweifelt am Wege nieder und starrte das Erdreich an. Dann prüfte er es mit Augen, Hand und Zunge und schnellte plötzlich trunken vor Freude empor, ein neuer Mensch, der ein neues Lebensziel hatte. So wenigstens pflegte er selbst die Art zu erzählen, wie er den Reichtum dieses Bodens an Kaolin entdeckt habe. Nun baute er 1760 einen kleinen Brennofen in Sitzendorf und machte seine Versuche; sie gelangen über alle Erwartung; so glückte es ihm leicht, Teilhaber mit reichen Mitteln zu finden. Damals gab's ja noch keine Patente; so suchte er sich dadurch zu schützen, daß er das Geheimnis der Fabrikation auch vor seinen Teilhabern hehlte. Sein Mißtrauen war nicht grundlos, denn nach einigen Jahren erkundeten die feinen Herren Sozien durch Bestechung der Arbeiter das Verfahren und setzten ihn vor die Türe. Die Fabrik aber blühte nun ohne ihn empor, und was sie heute leistet, beweist ein Blick in ihre pompösen Schaufenster zu Sitzendorf, die sich von den ärmlichen Häusern ringsum seltsam abheben. Auch in Katzhütte und Scheibe wie in anderen Orten Thüringens entstanden bald Porzellanfabriken, die Macheleidts Entdeckung ausnutzten; heute wird weit über die Hälfte allen deutschen Porzellans in Thüringen erzeugt. Man sieht, die Schicksalsstunde im Leben des armen Kandidaten ist Hunderttausenden zum Segen geworden. Übrigens hat Macheleidt das traurige Los der meisten Erfinder nicht geteilt; ihm blieb so viel, daß er in Schwarzburg bequem leben konnte. Dort errichtete er das erste Aussichtshäuschen auf dem Trippstein, »um den Menschen den Tempel der Natur zu erschließen«.



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